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nordic listening

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music in the middle of nowhere

Das Kammermusikfestival Kuhmo findet nicht um die Ecke statt. Eine Expedition in den Norden Finnlands, eine Reise zu blauen Seen, weißen Nächten und einzigartiger Musik.

Im Flugzeug von Helsinki nach Kajaani liest die Sitznachbarin eine Partitur wie andere die Tageszeitung. Der Lenker des Taxibusses, der noch eineinhalb Stunden weiter Richtung Norden, vorbei an sumpfigen Wäldern voll von Heidelbeeren ruckeln wird, hat mehr Geigenkästen und Cellokoffer einzuladen als herkömmliches Gepäck. Das Ziel der Reise: Kuhmo, eine freundliche Kleinstadt an der finnisch-russischen Grenze, die alljährlich für zwei Wochen zum Zentrum der internationalen Kammermusik wird. Das Kuhmo Festival ist eine Erfolgsgeschichte für sich. Gegründet 1970 mit einem Konzert in der Kirche, Studentenkursen und ein paar hundert Besuchern, brachte man es 2011 auf 76 Konzerte mit mehr als 140 Künstlern und 37.000 Zuhörern. Dazu Meisterklassen, bildende Kunst und mehr. Und das alles mehrheitlich aus dem Ticketverkauf finanziert. Aber warum ausgerechnet hier, 600 km nördlich von Helsinki? Warum in einer abgelegenen Kleinstadt zwischen Fichten, Föhren und ein paar hundert Seen?
Diese Fragen stellt sich vermutlich jeder auf dem Weg nach Kuhmo. Im Flugzeug, und auch noch im Bus. Aber dann plötzlich nicht mehr, wenn man einmal angekommen ist in diesem finnischen Bullerbü mit seinen roten und blauen Holzhäusern, den großen Holzschaukeln in jedem Vorgarten und dem See, der kaleidoskopartig alle Farben der Umgebung spiegelt. „Das erste Mal dachte ich auch, oh Gott, wir sind in the middle of nowhere, was tue ich hier?” erinnert sich die ukrainische Pianistin Natacha Kudritskaya. „Aber es ist ein besonderer Platz in einer einzigartigen Umgebung. Hier kommt man nicht an, gibt ein Konzert und fährt wieder, hier bleibt man zwei Wochen, spielt mit unglaublichen Musikern und trifft fanatische Musikliebhaber, die Atmosphäre ist sehr familiär und leger, man kann hier eine wirklich gute Zeit verbringen.”
Ein typischer Konzerttag beginnt in der alten Holzkirche, die Damen kommen in bunten Marimekko-Kleidern, die Herren in hellen Leinenhosen und Festival-T-Shirts, ein paar Kinder huschen zwischen den blaugrauen Bänke umher, und die Melodien von Mozart, Bach und Sibelius werden von den Sonnenstrahlen, die durch die großen Fenster dringen, begleitet. Die kleine Form der Musik wird plötzlich ganz groß. Das Programmheft ist voll von klingenden Namen: Bach, Beethoven, Mozart, Schubert, Schumann, Debussy, Dvořák, Rachmaninov, Mahler, Kreisler, Beethoven, Chopin, Golijov, Webern, Berg, Traditionalisten kommen hier genauso auf ihre Kosten wie Modernisten. „Aber die Balance ist schwierig,” gibt Vladimir Mendelsohn, seit 2005 künstlerischer Leiter des Festivals, zu. „Ich bin selbst Komponist und muss aufpassen, dass nicht zu viel Modernes gespielt wird. Da sagen zwar alle ‚schön, schön, schön‘ – aber niemand kommt. Das Ohr ist konservativ. Das Auge akzeptiert Picasso, aber das Ohr akzeptiert keinen Schönberg. Ich versuche, das Publikum neugierig auf Modernes zu machen, es ist einfach wichtig, dass keine Löcher in der Musikgeschichte entstehen. Wir haben hier eine gute Mischung, so sind alle zufrieden.”
Den Konzertbesuchern stehen täglich vier bis fünf Konzerte zur Auswahl, in einem Zelt gibt es Lachs oder Rentier mit Salat, man trinkt Kaffee, nascht Heidelbeeren, beobachtet Musiker, wie sie ihre Instrumentenkästen am Fahrrad balancieren, man spaziert von der Kirche zur Schule, von der Schule zum Konzerthaus. Alle großen Abendkonzerte finden hier in Kuhmo Talo, dem 1993 eröffneten Konzerthaus statt, das zugleich Festivalzentrum, Kartenbüro und Kaffeehaus ist. Der Konzertsaal ist wie eine hölzerne Wabe aus nordischer Kiefer gebaut, was für eine einzigartige Akkustik sorgt – an der Kühlung mittels Solarzellen wird freilich noch gearbeitet. „Der Klang hier ist wirklich unglaublich,” schwärmt Igor Naidin, Violonist des Borodin Quartetts. Auch er ist nicht zum ersten Mal hier und freut sich wie ein Kind, einem neuen Ensemblemitglied alles zeigen zu können. „Es ist einfach ein ganz spezieller Ort. Das Konzerthaus, der See und der Palatschinkenstand dazwischen.“ Immer wieder der See. Was die Musik für die Ohren, ist der See für die Augen. Er strahlt unglaubliche Ruhe und Gelassenheit aus, um dann sobald ein paar Wolken aufziehen hochdramatisch zu werden. Fast magnetisch zieht er zwischen den Konzerten Besucher wie Künstler an, man schaut ins Wasser, schlendert die Promenade entlang und steht am Ufer beim Palatschinkenstand vor der Entscheidung Erdbeermarmelade oder Elchgeschnetzeltes?
Mendelssohn und sein Team arbeiten das ganze Jahr für die beiden Festivalwochen, das Programm ist bis ins Detail durchdacht. Es ist weder eine Aneinanderreihung von Events noch ein eitler Laufsteg für namhafte Ensembles, es ist ein rundes Ganzes. Jeder Tag hat ein Thema, jede Aufführung einen Hintergrund. Titel wie „Die fünf Siegel der Göttlichkeit“, „Krieg und Frieden“, „Die 1002te Nacht“, „Lieder ohne Worte“ oder „Wurzeln und Flügel“ bilden den Rahmen, in den Streichquartett, Sonate und Fuge wie lang gesuchte Puzzlesteine passen. Mendelssohn: „Mit dem Programmbuch in der Hand wird deutlich: gewisse Sachen passieren nur einmal im Leben. Ich sage immer, man muss nicht herkommen, man soll nur wissen, was man verpasst. Das ist provozierend genug für die Leute um herzukommen.“ Und wer einmal hier war, will immer wieder kommen, die Mischung aus Kunst und Natur, aus musikalischer Qualität und familiärer Atmosphäre zieht alle in den Bann.
Dazu geben die weißen Nächte dem Festivaltreiben etwas Magisches. Irgendwann gegen ein Uhr nachts beginnt es leicht zu dämmern. Um drei scheint bereits wieder die Sonne über Kuhmo. So verschwimmt die Zeit, man trifft sich abends am Salakamari, einem Platz mit Gourmetrestaurant, Kaffeehaus, Bar und nordischem Kunsthandwerk, der nur zu Festivalzeiten bespielt wird. Spätestens gegen Mitternacht wird vor dem Restaurant das Lagerfeufer entfacht, der Cellist vom Vormittagskonzert kauft an der Bar Würste und brät sie. Man erzählt der Sitznachbarin von Berg, Schönberg und Webern, sie revanchiert sich mit Lakritze und Gelsenspray. Es ist bald zwei, der Himmel leuchtet sagenhaft gelb und morgen früh steht Haydn am Programm. Zeit schlafen zu gehen. Vorher noch ein Abstecher zum See – wie er wohl in diesem Licht wieder aussieht?

original (1778)

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