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Mythos Unverträglichkeit

ein Artikel für das Fleisch-Magazin, erschienen 2015
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Alarm im Darm
Mythos Unverträglichkeit

Ein ungutes Bauchgefühl überzieht Mitteleuropa. Lebensmittelallergien und Unverträglichkeiten schwächen bereits ein Drittel der Bevölkerung. Die Angst vor Brot, Milch und Apfel wächst. Das Leben bei Tisch ist kompliziert geworden.

Es ist ein seltsames Phänomen dieser Zeit. Nie zuvor war ausgewogene Ernährung so einfach wie jetzt. Und doch macht sich in allen Gegenden des Landes die Sorge vor einem falschen Bissen breit. Immer mehr Menschen befürchten, sich krank zu essen. Sie stellen ihre Ernährung um. Wiederholt. Essen ist nicht mehr etwas, das man aus Hunger, Appetit oder Freude am Genuss tut. Nein, auf dem Teller trifft Vernunft auf Verzicht. Wer gewisse Lebensmittel bewusst weglässt, ist nicht länger ein armer Hund auf Diät sondern am Weg ein besserer Mensch zu werden.
Anlässe für dieses Umdenken gibt es zuhauf: Analogkäse, Antiobiotikarückstände, bienentötende Pestizide, BSE, HCB, Chlorhühner, Dioxin, Gammelfleisch, Genmais, Listerien, Massentierhaltung, Vogelgrippe, Ende nie. All das hat eine zu tiefst verunsicherte Menge an Essern zurückgelassen.
Etwa ein Drittel der Bevölkerung leidet in unterschiedlichem Maß an Allergien. Die Fortschritte in der Forschung verbessern die Diagnoseverfahren für Unverträglichkeiten jeglicher Art. Ein Segen für alle Zöliakiekranken, eine Erlösung für alle Allergiker. Nach langer Suche und Fehldiagnosen finden sie die Ursache ihrer Leiden und können den Gefahren wissend entgegentreten. Aber auch: gefundenes Fressen für Lebensmittelindustrie und die Autoren einschlägiger Ratgeberliteratur. Bauchweh? Müde? Hautprobleme? Ganz klar ein Ernährungsproblem. Solche Thesen finden bei den aufnahmebereiten Mitteleuropäern großen Widerhall. Mehr auf seinen Körper hören. Bewusster essen. Auch mal Verzicht üben. Das tut gut.
Zu den gesundheitlichen Aspekten kommen ethische Bedenken. Was darf man denn noch? Wie und wo und woraus wurde meine Nahrung produziert? Fairness und Fußabdruck immer im Hinterkopf. Erst kommt die Moral, dann das Fressen, und davor schummelt sich noch die Gesundheit hinein.

Da ist zum einen Gluten das zunehmend vom Speisezettel verbannt wird. Das gefürchtete Klebereiweis kommt in Weizen, Dinkel und Hafer vor und löst bei etwa 1% der Bevölkerung Zöliakie aus. Das ist eine ernstzunehmende, gefährliche entzündliche Darmkrankheit. Abseits davon tauchen immer mehr glutensensitive Esser auf, die mit Bauchschmerzen und Hautproblemen auf Brot, Pizza und Pasta reagieren.
Der Buchmarkt füttert sie gut. Titel wie „Dumm wie Brot – wie Weizen das Gehirn zerstört“ verteufeln das 10.000 Jahre alte Kulturgut als Killerkorn. „In Deutschland, in Europa und in der ganzen Welt hat Weizen eine Spur der Verwüstung hinterlassen“ heißt es in „Weizenwampe“ – der 2013 erschienenen Streitschrift des amerikanischen Herzspezialisten William Davis. Den Grund für die Katastrophe sieht Davis in der genetischen Veränderung des Getreides seit Mitte des 20. Jahrhunderts.
Schwer verdauliche Thesen prallen auf berechtigte Kritik an der industriellen Landwirtschaft. So kann in der Tat das Protein ATI, das zur Schädlingsabwehr und Ertragssteigerung extra in den Weizen hineingezüchtet wurde bei Unverträglichkeit Probleme machen. Auf der anderen Seite ist Gluten ein nützliches Protein, bei gesunden Menschen bringt der Verzicht keinerlei Vorteile.
In der aufgebrachten Menge mischen sich Selbstdiagnosen mit Annahmen und Halbwahrheiten. Das Körberl verkommt zur Gefahrenquelle. Wenn Weizen kaum mehr vertragen wird, sollte man vielleicht das Frühstückssemmerl weglassen? Und so rühren die Menschen Hirsebrei und Haferschleim an. Sie rösten Nüsse, trocknen Früchte und nennen das Ergebnis „basisches Frühstück“ oder „Porridge“. Es schmeckt nicht sensationell, aber es wärmt und kräftigt. So sagt man.
Keine Bewegung ohne Gegenbewegung: Brot-Renaissanciers und Biobäcker lehnen sich gegen die allerorts aufgepoppten Aufbacköfen mit ihren Industrieweizenprodukten auf. Einkorn, Urroggen und Khorasanweizen versus moderne Pflanzengenetik. Sauerteig statt Hefe. Der Kampf ist erbittert. Aber das Marmeladebrot scheint gerettet.

Doch die nächste Verunsicherung lauert im Kühlregal. Sie nennt sich Laktoseintoleranz. In den meisten Ländern der Erde ist die Unfähigkeit, Milchzucker, also Laktose, auch im Erwachsenenalter zu verdauen keine Krankheit sondern Normalität. Vor etwa 7.500 Jahren hat der nordeuropäische Mensch jedoch gelernt, das Enzym Lactase zu produzieren. Diese Fähigkeit kommt ihm wohl langsam wieder abhanden.
20 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher sind bereits von einer Laktoseintoleranz betroffen. Enthält eine Speise Spuren von Milch ist das bei einer Kuhmilchallergie gefährlich bis tödlich, bei einer Intoleranz nur mehr oder weniger unangenehm.
Die Unverträglichkeit hat viele Väter: Die im Supermarkt vertriebene Milch unterscheidet sich zunehmend von dem was Generationen zuvor als Milch kannten. Bei 8 von 10 Kühen werden in der modernen Landwirtschaft die Hörner entfernt, das beeinflusst Zusammensetzung und Qualität. Dazu forciert der Handel ultrahocherhitzte länger frische ESL-Milch. Und schlimmer noch: Kuhmilch ist Muttermilch. Und irgendwo stehen Kälbchen herum, die sofort nach der Geburt von der Mutterkuh getrennt werden, damit wir ihre Milch bekommen.
Vegan for fit. Vegan for fun. Das klingt doch gleich viel fröhlicher und moderner. Auf Milch zu verzichten beweist Gesundheitsbewusstsein und ein Herz für Tiere. Wer jetzt statt eines Matcha Latte mit Sojamilch einen Häferlkaffee mit viel Milch bestellt wirkt irgendwie gewöhnlich, grausam und gestrig. No milk today lautet in weiten Kreisen das neue Lebensmotto.

Zudem breitet sich unter den Bewohnern Europas die Erkenntnis aus, dass sie auch nicht länger bedenkenlos Obst essen können, wenn sie sich gesund ernähren wollen. Jeder dritte Erwachsene leidet Schätzungen zufolge an einer Fruchtzuckerunverträglichkeit. Selten handelt es sich dabei um eine angeborene Fructoseintoleranz, die Leber und Nieren schädigt. Viel häufiger tritt die so genannte Fruktose-Malabsorption auf. Dabei kann Fruchtzucker über den Darm nicht optimal aufgenommen werden. Der Dünndarm gerät in Aufruhr. Zurückhaltung und Vermeidung lautet die Empfehlung. Panik ist die Folge.
Doch warum sind Äpfel, Trauben und Beeren plötzlich böse und gefährlich? In ihrem Bestseller „Darm mit Charme“ spricht die smarte Science-Slammerin Giulia Enders diverse Ursachen an: süßes Obst ist das ganze Jahr über verfügbar geworden. Viele Früchte und Gemüsesorten werden extra auf einen höheren Fructosegehalt hingezüchtet. Apfel, Paradeiser, Grapefruit – alle süßer als noch 30 Jahre zuvor. Fructose wird vermehrt als natürliche Süße in allen möglichen Produkten eingesetzt. So viel Fructose geht auf keine Darmhaut.
Der weltweite Zuckerkonsum hat sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts überhaupt verdreifacht. Spätestens seit „Pur, weiß, tödlich – Warum der Zucker uns umbringt“ – einem US-Bestseller aus den 1970er Jahren – kann niemand mehr unbeschwert einen Teelöffel Zucker naschen. Dann die Erleichterung: Mit Fruchtzucker gesüßt. Natürliche Süße aus Früchten. Das klang so gut. Was für eine Falle.

Es ist nur eine Frage der Zeit bis die Nahrungsmittelindustrie auf das Häufchen der Verunsicherten aufmerksam wird. Die Supermärkte des Landes rüsten auf: die Diabetikerabteile werden ausgeräumt und mit neuen Frei-von-Produkten bestückt. Bio und regional bekommen als Verkaufsargumente Konkurrenz. Jetzt geht es vor allem um das, was weggelassen wird.
„Mit ohne“ heißt es in den neuen Regalmetern. Dazu ein bisschen Superfood, Gojibeeren und vegane Powerriegel. Milch kommt nicht mehr automatisch von Kuh oder Ziege. Die Regale füllen sich mit weißen Drinks aus Hafer, Mandel, Haselnuss, Soja oder Reis. Die Spezialnahrung für einige Kranke und viele Verunsicherte boomt.
Das Angebot gefällt den sensiblen Essern. In fünf Jahren wächst der Markt an veganen, gluten- und laktosefreien Lebensmitteln um 20 %. Was auf den Teller kommt ist Ausdruck eines individuellen Lebensstils. Patrick, EDV-Techniker, isst keinen Weizen mehr. Jenny, Yogalehrerin, plant ihre vegane Hochzeit. Lilo, Büroangestellte, probiert’s grad ohne Milch.

In den besten Restaurants des Landes wird man schon lange bei der Tischreservierung nach Name, Rückrufnummer, Essgewohnheiten und Allergien gefragt. Überraschungsmenüs sollen schließlich nicht im Krankenhaus enden. Die österreichischen Chroniken berichten von rund 100 Ambulanzeinsätzen im Jahr in Folge anaphylaktischer Schocks.
Da tritt am 13. Dezember 2014 die EU- Kennzeichnungspflicht für allergene Inhaltsstoffe in Kraft. 14 Stoffe sind es, die künftig auf Lebensmittelverpackungen ausgewiesen sein müssen: Gluten, Krebstiere, Eier, Fische, Erdnüsse, Sojabohnen, Milch, Schalenfrüchte, Sellerie, Senf, Sesam, Schwefeldioxid und Sulphite, Lupinen und Weichtiere. Allergiker atmen auf. Und empfindliche Esser nehmen von nun an ihre Lesebrille zum Einkaufen mit.
Die Verordnung macht auch vor den Restaurants nicht Halt. Ein Aufschrei geht durch die Gastroszene. Küchenchefs fühlen sich in ihrer Kreativität eingegrenzt, von Pseudoallergikern bedroht, von Schikanen in die Enge getrieben. Die Rede ist von immer dicker werdenden Speisekarten mit viel Kleingedrucktem. Von Menüs, die sich wie Beipackzettel von Medikamenten lesen. Viele Allergiker wollen sogleich Tische reservieren und auswärts essen gehen. Doch zu früh gefreut: Die Lösung wird eine österreichische. Es reicht, wenn geschultes Personal mündlich Auskunft erteilen kann. So wird die Darmträgheit vom Tabu zum Tischthema und der Kellner zum Diskussionspartner über Allergie, Ausschlag und Ausscheidung.

Der Mythos der omnivoren Ernährung bröckelt immer mehr. Werden die Allesfresser früher oder später ganz verschwinden? Mehr als 150 Jahre nach Gründung der Vegetarian Society in Manchester, Großbritannien (1847) ist der Vegetarismus in der Normalität angekommen. Im Endspurt um Akzeptanz und akzeptables Angebot wird die Idee der fleischlosen Ernährung sogar noch von einer veganen Welle überrollt. In rund zwanzig Jahren hat sich die Zahl der vegetarisch lebenden Menschen weltweit verzehnfacht. Fast zehn Prozent der österreichischen Bevölkerung bekennen sich zu Vegetarismus oder einer veganen Lebensform.
Wer immer noch bedenkenlos alles schluckt wird spätestens jetzt schief angeschaut. Es war noch nie so einfach mit einer Bestellung oder dem Wocheneinkauf im Baumwollsack Stellung zu beziehen. Essen für Lebensstil und Weltfrieden. Glutenfreie Kohlköpfe aus der Food Coop. Da trifft Genuss auf Kritik am gängigen industriell geprägten Lebensmittel- und Agrarsystem. Laktosefreie Kokosmilch aus dem Bioladen, natürlich fairtrade: da wird das Curry mit reinem Gewissen aufgegossen. Das macht die Menschen glücklich.

Am Ärgsten trifft es die Kinder. In Kindergärten und Schulen gibt es keine Küchen mehr. Der Lieferservice bringt jedem Kind täglich sein eigenes Menü, zusammengestellt nach religiösen Vorgaben, Allergien und Diätvorschriften. Die Mutter, die nicht möchte, dass die vegane Nahrung in die Mikrowelle kommt, füllt das vorgekochte Mittagsmenü morgens in kleine Thermobehälter. Dazu kommt in Schnupfenzeiten die populäre Angst vor der Verschleimung durch Milchprodukte. Neidig schielen die wenigen Normesser auf die Kinder mit den besonderen Boxen. Und umgekehrt.
Eine der größten Herausforderungen in dieser Zeit: Kindergeburtstag. Die Institutionen selbst verbieten längst Selbstgebackenes. Zu groß ist die Gefahr von eingeschleppten Keimen, Nüssen und Mehl. Die Partyjause treibt den Eltern den Angstschweiß auf die Stirn. Wer will guten Kuchen backen, der muss haben sieben Sachen. Drei davon sind allergen. Die besorgten Eltern durchforsten ihre Kochbuchbibliothek von „Palaeo – die neue Steinzeitküche“ bis „Peace Food“ nach gluten- und laktosefreien Tortenrezepten. Glasieren mit fair gehandelter, veganer Zartbitterschokolade und machen aus Agar Agar und Birkenzucker unbedenkliche Gummibärchen als Deko. Die Tatsache, dass Bauchweh früher zum Kindergeburtstag dazugehörte ist längst in Vergessenheit geraten.

Und so ist es geschehen, dass die Mehrheit Essen als etwas potentiell Gefährliches wahrnimmt. Dass Allergiker durch das massenweise Auftreten empfindlicher Esser in Verruf geraten. Gleichzeitig aber von der omnipräsenten Spezialnahrung profitieren. Dass die Ernährung zum individuellen Lebensstil hochstilisiert wird. Und die Kritik an industrieller Landwirtschaft nicht verhallt.
Der Appetit ist dennoch ungebrochen. Gegessen wird immer.

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